Ankämpfen gegen das Vergessen
Leipziger Ehepaar engagiert sich für die Angehörigen Demenzkranker
Zuerst schmiss sie ihre Plattensammlung weg. Dann bestellte sie immer mehr Bücher, die sie nicht las und Medikamente, die sie nicht nahm. Vertreter schwatzten der Rentnerin einen Internetanschluss auf, obwohl sie keinen Computer besaß. Immer öfter saßen Glücksritter und Drücker auf ihrem Sofa. Sie jammerte über die seltenen Besuche ihrer Tochter, die zweimal täglich vorbei schaute. Monika Hille verstand ihre Mutter nicht mehr, die früher so unternehmungslustig war und sich immer mehr zurückzog, die nicht mehr ins Theater wollte und Angst hatte vor Fahrten mit der Straßenbahn.
Vor zehn Jahren erkrankte ihre Mutter an Alzheimer. Heute ist sie ein Pflegfall; unfähig, allein zu überleben. „Erst spät haben wir erfahren, was mit ihr passierte. Als uns der Arzt sagte, sie habe Alzheimer, war das ein Schock“, sagt Hille. Von diesem Tag an änderte sich auch das Leben der 60-Jährigen und ihres Mannes Josef. Sie nahmen die Mutter zu sich, die damals noch kein Pflegefall war, doch immer umsorgt werden wollte und Geborgenheit brauchte.
Das Ehepaar begann, nach Beistand zu suchen, nach Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen. Doch sie fanden nicht das, wonach sie suchten. Niemand sagte ihnen, zu welchen Ärzten sie gehen sollten, wie sie sich gegenüber einer Demenzkranken richtig verhalten, welche Rechte sie haben als pflegende Angehörige. Einmal saßen sie im Publikum einer Podiumsdiskussion. Es wurde über Pflege diskutiert, über die Zukunft der Alten in einer alternden Gesellschaft. „Da saßen Politiker und Vertreter der Wohlfahrtsverbände. Nicht mit einem einzigen Wort wurden pflegende Angehörige erwähnt“, sagt Josef Hille. Zwei Drittel aller Pflegefälle würden zu Hause durch Verwandte versorgt, die der „größte Pflegedienst Deutschlands“ seien.
Im April 2008 gründete das Ehepaar Hille die Alzheimer-Angehörigen-Initiative (AAI). Sie wollen andere Angehörige unterstützen und eine Lobby bilden für sie. Josef Hille hat in Chemie und Ingenieurwesen promoviert, mit 69 Jahren wurde er Kassenwart seines gemeinnützigen Vereins. Monika Hille, die Vereinsvorsitzende, hat Geschichte studiert und später einen Kosmetiksalon betrieben, den sie für die Pflege ihrer Mutter aufgab. Beide wollten ihren Ruhestand genießen, „viele Reisen unternehmen, nach Norwegen zum Beispiel“, sagt Monika Hille. Stattdessen bauten sie das Dachgeschoss ihres Hauses zum Beratungsraum ihres Vereines um. Dort empfangen sie andere Angehörige und tagen mit dem Verein, der inzwischen zehn Mitglieder hat. „Die meisten haben Berufe, die für unsere Vereinsarbeit nützlich sind, zum Beispiel Pfleger und Ärzte“, sagt Hille. Der Verein hat ein Sorgentelefon eingerichtet, das fast jeden Tag klingelt. Dann rufen Menschen an, die nüchtern Fragen stellen oder verzweifelt um Hilfe bitten. „Neulich war eine Frau am Telefon, die mit ihrem Mann nicht mehr zurecht kam, weil er immer aggressiver wurde“, berichtet Hille. Typisch sei das für Demenzkranke. Sie spüren die Spannung, ahnen Verschulden. „Das beste ist, ihnen in allem recht zu geben. Sie nicht zu berichtigen und ihnen ihr Vergessen nicht vorzuhalten.“
Die AAI wird mittlerweile von der Deutschen Alzheimergesellschaft empfohlen und von Krankenkassen unterstützt. Im September hat sich der Verein auf eigene Kosten einen Kastenwagen gekauft, um mobil beraten zu können. „Demenz ist für viele noch immer ein Tabu“, sagt Josef Hille. Am 21. September, dem Welt-Alzheimertag, standen sie einen Tag lang am Augustusplatz. Sobald die Pflege für ihre Mutter sichergestellt ist, wollen sie wieder los. Ankämpfen gegen das Vergessen.
Michael Sellger
Telefon 0341 86329906; www.aai-leipzig.de