„Sehr schwer war die Übergangszeit“
Inge Jens über Lesen, Schreiben und die Krankheit ihres Mannes Walter Jens
Inge Jens, 1927 in Hamburg geborene Germanistin, Herausgeberin der Tagebücher von Thomas Mann, ist die Ehefrau von Walter Jens. Thomas Mayer sprach mit ihr über die Demenzerkrankung ihres Mannes und ihr eigenes Leben.
Frage: Wie war der Tag?
Inge Jens: Ich war bei Freunden zum Mittagessen, und mein Mann war mit seinen Pflegern auf deren Bauernhof gefahren. Heute Morgen hatte ich etwas länger geschlafen, weil mich mein Mann in der Nacht sehr beschäftigte. Er war gefallen, aber es war nicht so schlimm.
Sie sagen: Ich will nicht hadern. Was gibt Ihnen die Kraft?
Zu hadern wäre ungerecht. Denn wenn ich mich fragen würde, warum es ausgerechnet uns trifft, dann müsste ich mich ja auch fragen, warum es uns so lange so gut gegangen ist. Am 10. Februar sind wir 59 Jahre verheiratet, und von diesen Jahren waren 54 wunderbar. Es wäre ein großes Unrecht, mit dem Schicksal zu hadern, nur weil unsere Glückssträhne zu Ende ging. Freilich kann ich nicht sagen, wie es in meinem Mann aussieht. Ich habe den Eindruck, dass er seit drei Jahren nicht mehr sehr leidet. Sehr schwer war für ihn und für uns die Übergangszeit, in der er noch mitbekam, wie sein Gedächtnis schwand, wie ihm alles quasi zerfiel, wie er die Orientierung verlor.
Wie geht es Walter Jens heute?
Es lebt in seiner Welt und hat es so gut, wie es ein Mensch unter den von dieser Krankheit bestimmten Umständen nur gut haben kann. Er hat liebevolle Pfleger, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen und die auch seine gelegentlichen psychotischen Ausbrüche freundlich hinnehmen. Ein alter Schüler liest ihm jede Woche vor, die Kinder kommen. Was wir ihm bieten können, versuchen wir ihm zu bieten, wohl wissend, dass nun alles unter gänzlich veränderten Umständen geschieht.
Sie lehnen Medikamente ab, die Ihren Mann für kurze Zeit ins normale Leben zurück holen könnten. Warum?
Da er keinen Alzheimer, sondern eine vaskulär bedingte Demenz hat, geht es ihm mal ganz gut, mal sehr schlecht. In einem Hochzustand überlegte der Arzt, ob man ihm nicht ein Antidementivum gebe sollte, um seinen Zustand kurzfristig zu verbessern. Das möchte ich aber nicht, denn ich möchte auf keinen Fall, dass er noch einmal einen Bewusstseinszustand erlangt, der ihn seine bittere Lage erkennen lässt.
Früher reisten Sie gemeinsam durchs Land, heute müssen Sie das allein tun. Wie meistern Sie das?
In bin dankbar, dass ich Vorlesungen und Vorträge halten kann. Die Pflege ist teuer, und die Reisen sind gut bezahlt. Also sind die Verpflichtungen nützlich, um die nicht geringen Kosten zu verdienen. Außerdem macht es mir einfach Spaß, vorzutragen und vorzulesen. Ich treffe dabei auf viele nette Leute und immer auch auf Menschen mit gleichem Schicksal.
Fühlen Sie sich ein wenig beauftragt, über den Umgang mit Demenz zu reden?
Nein, ich habe keinen missionarischen Auftrag. Wer mir zuhören möchte, kann es tun. Außerdem: Meine Auftritte sind öffentlich. Und ich gebe ja als Lesender nicht nur, ich empfange immer auch.
Sie sind es nicht leid, dass die Krankheit Ihres Mannes immer wieder zur Sprache kommt?
Nein, ich kann das verstehen, weil gerade diese Krankheit ein gesellschaftliches Problem ist. Die Zahl derer, die an Demenz leiden, nimmt ständig zu und damit auch die Zahl derer, die dazu verdammt sind, so einen Kranken zu pflegen. Das ist eine Situation, in der man unendlich viel lernen muss und in der einem der Rat und das Wissen von ebenso Betroffenen wichtig sein kann.
Übersteigt die Pflege allein die menschliche Kraft?
Allein geht das nicht. Mein Mann braucht rund um die Uhr, Tag wie Nacht, Betreuung. Die müssen sie sich teilen. In der Zeit, in der ich mein Erinnerungsbuch schrieb, war ich nachts mit meinem Mann allein. Das war damals machbar, heute aber nicht mehr. Dank meiner Hilfen bin ich, wie Sie sehen, durchaus noch am Leben.
Wann bemerkten Sie die Krankheit Ihres Mannes?
Als er nach einer Lesung nicht mehr seinen Namen in die Bücher schreiben konnte. Von da an musste ich ihn schützen.
Sie kommen jetzt wieder mal nach Leipzig. Ist das für Sie eine besondere Reise?
Natürlich, hier lehrte mein größter Förderer Hans Mayer. Ihn besuchte ich einst in seiner Wohnung in der Tschaikowskistraße, und er gab mir die Chance, in seinem Seminar zu referieren. Unter seiner Obhut habe ich auch gelernt, anderen Leuten über meine wissenschaftlichen Arbeiten zu berichten. Hans Mayer war wunderbar. Im Gespräch machte er einem immer bewusst, wie viel man wisse und nicht, wie viel man nicht wisse, obwohl er einem an Wissen sehr überlegen war.
Leipzigs Literaturausbildung unter Mayer hatte welchen Stellenwert?
In Leipzig lernte die andere Hälfte der Welt, was deutsche Kultur ist. Und, wenn Sie mich fragen, mindestens ebenso gut wie in Tübingen.
Welche eigenen literarischen Pläne haben Sie?
Es gibt vom Rowohlt-Verlag die Anfrage, mit meinem Verlegerfreund Uwe Naumann den Briefwechsel zwischen Heinrich und Klaus Mann zu editieren.
Gerade hatte der Dokumentarfilm „Frau Walter Jens“ Premiere. Den Titel wollten Sie?
Ich weiß nicht, wie er sonst heißen könnte. Es ist eine ironische und wunderbare Anspielung auf das Buch „Frau Thomas Mann“, das letzte, was ich gemeinsam mit meinen Mann schreiben konnte.
Morgen, 20 Uhr, ist Inge Jens zu Gast im Leipziger Haus des Buches. Im Gespräch mit Michael Hametner stellt sie ihr Buch „Unvollständige Erinnerungen“ vor.
Zu hadern wäre ungerecht. Denn wenn ich mich fragen würde, warum es ausgerechnet uns trifft, dann müsste ich mich ja auch fragen, warum es uns so lange so gut gegangen ist.