Den original Artikel finden Sie auch hier als Download.


Zahl der Demenzkranken nimmt zu – vielen Angehörigen kommt Versorgung teuer zu stehen

Leipzig. Den Sozialkassen droht eine Kostenexplosion durch den starken Anstieg der Zahl von Demenzkranken. Derzeit wird mehr als jeder dritte Bundesbürger im Laufe seines Lebens altersverwirrt und pflegebedürftig. Doch wer kommt für die Kosten auf? Schon heute leiden Ehefrauen und -männer an der finanziellen Belastung, die mit der Pflege ihrer Partner einhergeht.

Von Simone Liss

Ein Weichzeichner hat seine Vergangenheit übermalt. Die Spuren, die Konturen, die Trampel­pfade seiner Erinnerung: verschwunden. Reiner M.* ist 57, als er das Schiff ohne Wiederkehr betritt, ins Meer des Vergessens driftet. Ein Schlaganfall bringt den motorsportbegeisterten Leipziger im Sommer 2004 aus dem Lot. Sein Wesen verändert sich in kürzester Zeit. Er wird einsilbig, sprach- und antriebslos, aggressiv, zunehmend depressiv. „Ich vergesse“, sagt er fassungslos über sich selbst und droht mit Selbstmord. Der Moment, in dem seine Frau Karin* die Reißleine zieht. Sie lässt ihren Mann zwangseinweisen. Die Diagnose des Neurologen: Vaskuläre Demenz. Das Gehirn ist aufgrund der Durchblutungsstörung irreparabel geschädigt. Was das langsame Sterben im Kopf bedeutet? Zuerst verblassen die Erinnerungen, dann verlieren sich die Sprache, das logische Denken und schließlich die Bewegungsfähigkeit. „Es tut weh, wenn sich der eigene Mann nach 36 Jahren Ehe auf seinem Hochzeitsbild nicht mehr erkennt, wenn er seine Tochter wie eine Fremde behandelt und mit seinem besten Freund nichts mehr anzufangen weiß“, sagt Karin M. Sie ist einsam geworden neben dem Menschen, den sie liebt.

Reiner M. wird zum Pflegefall; seine Betreuung für die Familie zur Zerreißprobe. Mittlerweile lebt der 63-Jährige in einem Heim, mit Pflegestufe II. Die 600 Euro Rente des Mannes, der zuletzt als selbstständiger Vertreter arbeitete, decken bei weitem nicht die Pflegeheimkosten von etwa 2200 Euro im Monat. Etwa 200 Euro schießt seine Frau jeden Monat zu. Dazu kommen 300 Euro für Medikamente, Kleidung, Fuß- und Körperpflege sowie Friseur. Noch kann es sich die 55-Jährige leisten. Sie geht voll arbeiten, verdient nicht schlecht. „Aber Rücklagen kann ich schon lange nicht mehr bilden“, sagt Karin M. Um die Kosten der Pflegeversicherung langfristig zu finanzieren, will Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) im nächsten Jahr eine verpflichtende Zusatzver­sicherung auf den Weg bringen, mit der jeder Bürger eine Reserve für das eigene Alter ansparen soll. „Wovon?“, fragt sich Karin M.

Die Auszahlungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung reichen schon jetzt nicht, um einen Heimplatz zu bezahlen. Die Mehrheit der rund 2,37 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland bekommt Pflegestufe I, bedeutet 1023 Euro im Monat. 1279 Euro gibt es in der Pflegestufe II, 1510 Euro in der Pflegestufe III. In diesem Jahr betrugen die durchschnittlichen monatlichen Heimkosten inklusive Investitionskosten in der Pflegestufe I allerdings 1600 Euro, in der Pflegestufe II 2150 Euro und in der Pflegestufe III 2690 Euro. Die monatliche Differenz zwischen Soll und Ist beträgt demnach bis zu 1180 Euro. Reichen Rente und Vermögen nicht aus, um die Pflegekosten zu zahlen, springt das Sozialamt ein. Doch die öffentlichen Kassen sind leer. Daher landet bald ein Brief beim Partner oder den Kindern, in dem sie aufgefordert werden, Einkommen und Vermögen offenzulegen.

So auch bei Kurt K.* 1166 Euro Rente stehen dem 69-jährigen Thüringer zu. 289 Euro muss er jeden Monat von Amts wegen zur Pflege seiner 68-jährigen Frau, die vor acht Jahren an Alzheimer erkrankte, zuschießen. Auch ihre Rente in Höhe von 749 Euro deckt die Kosten der Pflege in Stufe III nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass der Ingenieur seine Frau nicht vor Ort betreuen lässt, sondern in einer spezialisierten Pflegeeinrichtung, 220 Kilometer vom Wohnort der Familie entfernt. So trägt der Rentner zudem die Kosten für die doppelte Haushaltführung und die Fahrten. Was ihm bleibt? „200 Euro im Monat“, sagt Kurt K. Er rechnet keinen Cent auf, aber er ist verzweifelt: „Wir sind jetzt 45 Jahre verheiratet, und ich würde für meine Frau das letzte Hemd geben. Aber dass ich aufgrund ihrer Pflege verarme, verbittert mich sehr.“ Von seinen Ersparnissen sind bereits 5000 Euro aufgebraucht, die Lebensversicherung gekündigt. „Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, wann ich zum Sozialamt muss. Und dass, obwohl ich das ganze Leben gearbeitet habe.“ Mehr Augenmaß und Gerechtigkeit fordert er vom Staat: „Hartz-IV-Empfängern, die vor 1948 geboren wurden, steht ein Schonvermögen von 33 800 Euro zu, pflegenden Angehörigen nicht.“

Derzeit dämmert jeder dritte Bundesbürger im Greisenalter dahin. Die Zahl von 1,2 Millionen Demenzkranken wird sich laut Pflegereport 2010 bis 2060 auf 2,5 Millionen mehr als verdoppeln. „Auf die Sozialkassen in Deutschland rollt deshalb in den kommenden Jahren eine Kostenlawine in womöglich zweistelliger Milliardenhöhe zu“, sagt der Vorstandsvize der Barmer GEK, Rolf-Ulrich Schlenker. Für jedes demenzkranke Mitglied müssen die Sozialversicherungen im Durchschnitt 800 Euro Mehrausgaben im Monat einkalkulieren. Die Pflegekassen rechnen pro Demenzpatient mit Ausgaben von 550 Euro monatlich, für einen Nicht-Dementen sind es im Mittel nur 25 Euro. Würde es gelingen, die stationäre Betreuung und Pflege aller Pflegebedürftigen um nur einen Monat aufzuschieben, würde das laut einer Studie der Universität Erlangen-Nürnberg eine Kostenersparnis von 1,21 Milliarden Euro im Jahr bringen.

„Das setzt voraus, dass die pflegenden Angehörigen finanziell besser unterstützt werden“, sagt Josef Hille, Leiter der Demenzhilfe-Beratungsstelle der Alzheimer Angehörigen-Initiative Leipzig: „Demenzerkrankungen sind vor allem eine Herausforderung für Familien der Betroffenen.“ Niemand, so Hille, wünsche sich, im Falle der Pflegebedürftigkeit nach Minimalstandard – satt, sauber und sediert – in einem Pflegeheim untergebracht zu sein. „Die zeitweilige Unterbrechung der Berufstätigkeit zur Pflege der demenzkranken Angehörigen sollte als echte Alternative zur Heimunterbringung durch Gewährung eines angemessenen Pflegegeldes, wie es in Österreich schon gang und gäbe ist, ermöglicht werden“, sagt Hille.

Kurt K. wäre für finanzielle Unterstützung dankbar. Schon heute sitzt er von früh bis spät am Bett seiner Frau und übernimmt die Arbeiten, für die eigentlich das Pflegepersonal bezahlt wird – füttern, mobilisieren, waschen, kämmen. Was wird, wenn er nicht mehr kann? „Am liebsten“, sagt Kurt K., „wäre ich gleich tot. Noch ein Pflegefall in der Familie – Gott möge es verhindern.“

* Namen geändert

i Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft betreibt ein bundesweites Alzheimertelefon: 01803 171017
Infos im Internet: www.wegweiser-demenz.de oder Alzheimer Angehörigen Initiative Leipzig, Tel.: 0341 86329906, www.demenz-leipzig.de

Bild_lvz_20101229

Liebevolle Fürsorge daheim – nur die wenigsten Pflegebedürftigen bekommen diesen Wunsch erfüllt. Foto: dpa

HINTERGRUND


420000 Menschen sind momentan in Österreich auf ständige Pflege angewiesen. Jährlich werden es mehr. Die Alpenrepublik hat sich als eines der ersten Länder dieser Herausforderung gestellt und ein einheitliches Pflegevorsorgesystem geschaffen. Im Juli 1993 ist das Bundespflegegeld­gesetz in Kraft getreten und brachte eine völlige Neuordnung der Pflegevorsorge in Österreich. Das Pflegegeld trägt dazu bei, dass sich jeder Mensch möglichst nach seinen eigenen Bedürf­nissen selbst Pflege organisieren kann.

Auf das Pflegegeld besteht Rechtsanspruch. Es ermöglicht den Pflegebedürftigen eine gewisse Unabhängigkeit und ermöglicht einen längeren Verbleib in gewohnter Umgebung. Das Pflegegeld wird in sieben Stufen eingeteilt. Die Einteilung in die Stufen erfolgt nach Anzahl der nötigen Stunden an Pflegebedarf im Monat. In die 1. Stufe fällt eine Person, die mindestens 50 Stunden pro Monat Pflegebedarf hat. In Stufe 7 fallen schwerst behinderte Menschen, die nicht in der Lage sind, Arme oder Beine zielgerichtet zu bewegen. Das Pflegegeld wird zwölf Mal jährlich ausgezahlt und beträgt von monatlich etwa 155 Euro (Stufe 1) bis etwa 1656 Euro (Stufe 7). Es wird auf die Mindestdauer von sechs Monaten gewährt. Die Höhe ist nur von der Pflegestufe abhängig, nicht vom Einkommen und der Ursache der Pflegebedürftigkeit. Zusätzlich gibt es ab Pflegestufe 3 für die Betreuung in den eigenen vier Wänden eine Förderung für den pflegenden Angehörigen, abhängig vom beruflichen Status. Das Pflegegeld in Österreich ist steuerfinanziert und nicht als Versicherungsleistung mit Beitragspflicht konzipiert. sil